#10 Die Chinesische Mauer

China. Das Land hat mich von Anfang an in seinen Bann gezogen. Bereits bei meinem ersten Besuch vor sechs Jahren hat mich China fasziniert: die Kultur, die Menschen, die Sprache, das Essen, die überwältigende Grösse und Menge von so ziemlich allem. Aus anfänglicher Faszination wurden Reisen nach Schanghai, Guilin und Hongkong. Inzwischen leben wir seit gut einem Monat in Peking, gehen hier in eine Sprachschule und stellen uns täglich den Herausforderungen, die der chinesische Alltag mit sich bringt. Wir schmunzeln noch immer über die alten Leute, die sich auf der Strasse die Haare schneiden lassen, teilen die leidenschaftliche Liebe der Chinesen zu ihrem Essen und beobachten, wie die Menschen sich im Spagat zwischen traditionellen Werten und modernem Lebensstil üben. Wir möchten euch in den nächsten Blogeinträgen an unserem Abenteuer «China» teilhaben lassen und beginnen heute mit einer der bekanntesten Legenden Chinas und einem Ausflug auf die Chinesische Mauer.

Eine vermutlich allen Chinesen bekannte Legende erzählt die Geschichte von Meng Jiang Nü [孟姜女], einem jungen Mädchen, das zur Zeit des ersten chinesischen Kaisers Qin Shihuangdi [秦始皇帝] lebte. Zwei Tage nach ihrer Hochzeit kamen Soldaten des Kaisers und holten ihren Mann. Er sollte helfen, an der grossen Mauer zu bauen. Obwohl Meng Jiang Nü die Soldaten inständig bat, ihren Mann nicht gleich mitzunehmen, musste ihr Mann noch am selben Tag aufbrechen – ohne Zeit, sich richtig von ihr verabschieden oder seine Sachen packen zu können. Nachdem ihr Mann mitgenommen worden war, wartete Meng Jiang Nü jeden Tag auf eine Nachricht von ihm. Vergebens. Es wurde Herbst, die Tage kürzer und kälter. Meng Jiang Nü war sehr besorgt um ihren Mann. Er hatte keine warmen Kleider mitnehmen können und würde frieren, sobald der Winter hereinbrach. So beschloss Meng Jiang Nü, sich in Richtung Mauer aufzumachen und ihrem Mann warme Wintersachen zu bringen. Nach einer langen Reise erreichte sie das Bohai-Meer und traf auf Arbeiter an der Mauer. Sie fragte nach ihrem Mann, doch keiner der Arbeiter kannte ihn. Erst nach langem Suchen fand sie jemanden, der sich an ihn erinnerte. Aber leider hatte er keine guten Nachrichten für Meng Jiang Nü. Ihr Mann war gestorben und man hatte seinen Leichnam in die Mauer eingemauert. Der Arbeiter nahm Meng Jiang Nü mit an die Stelle, wo ihr Mann verschüttet worden war. Vor lauter Kummer fing Meng Jiang Nü an zu weinen. Sie weinte und weinte, und konnte nicht mehr aufhören. Das junge Mädchen weinte so sehr, dass aus seinen Tränen ein reissender Fluss wurde, der die Mauer nach einiger Zeit aufbrach und den Leichnam ihres Mannes freigab.

Die Legende endet tragisch mit einer Schilderung, wie sich Meng Jiang Nü im naheliegenden Bohai-Meer ertränkt. Noch heute steht dort ein Tempel in Erinnerung an die zahlreichen Menschen, die beim Bau der Mauer umgekommen sind.

Mauer

Die Chinesische Mauer [中国长城] ist nicht nur das grösste Bauwerk der Erde, sie ist auch eines der ältesten. Die erste durchgehende Mauer wurde zur Zeit von Qin Shihuangdi, dem ersten Kaiser eines geeinten Chinas, im dritten Jahrhundert vor Christus gebaut. Seither wurde die Mauer von verschiedenen Dynastien weiter ausgebaut oder wiederaufgebaut, nachdem sie teilweise mehrere Jahrhunderte in Vergessenheit geraten war. Während der Ming-Dynastie (1368-1636 n. Chr.) erhielt die Mauer ihre heutige Form. Selbstverständlich standen den Menschen für den Bau der Mauer zu jenen Zeiten noch keine modernen Hilfsmittel zur Verfügung. Hunderttausende Männer trugen Steine auf ihrem Rücken Berge hinauf und türmten sie mit blossen Händen aufeinander. Allein während der Sui-Dynastie (581-618 n. Chr.) soll rund eine Million Männer an der Mauer gebaut haben, wovon etwa die Hälfte aufgrund der äusserst harten Arbeitsbedingungen ums Leben gekommen sein soll.

Für mich war es schon lange ein Traum gewesen, die Chinesische Mauer mit eigenen Augen zu sehen und einen Abschnitt davon zu Fuss zu erkunden. An unserem zweiten Wochenende in Peking ist es endlich so weit. Wir buchen eine Tour und lassen uns zum Gate des Mutianyu-Abschnitts [慕田峪] fahren. Eine kleine Gondel bringt uns von da zu Wachturm Nr. 14, von wo aus wir uns in Richtung Nr. 20 aufmachen. Es ist ein besonderes Gefühl, endlich auf der Mauer zu stehen. Bisher hatte ich sie erst auf Bildern und in Filmen gesehen – erstmals in der zweiten Klasse, als ich die Geschichte vom Hasen «Felix» hörte, der auf Weltreise ging und unterwegs auch die Chinesische Mauer entdeckte. Jetzt auf ihr zu stehen – insbesondere mit dem Wissen, unter welchen Bedingungen sie vor solch langer Zeit errichtet wurde und wie viele Menschen während dem Bau gestorben waren und gar in der Mauer begraben wurden – ist wirklich eindrücklich. Ganz besonders beeindruckend ist die Länge der Mauer. Sie scheint wirklich unendlich lang zu sein und schlängelt sich über Hügel und Berge bis an den Horizont. Ein Ende ist nicht auszumachen. Nach rund eineinhalb Stunden erreichen wir Wachturm Nr. 20, den höchsten zugänglichen Aussichtspunkt im Mutianyu-Abschnitt. «Findest du es nicht auch interessant, wie wichtig Legenden wie diejenige von Meng Jiang Nü für die Chinesen zu sein scheinen?», fragt Melchior auf dem Rückweg. «In den letzten Jahrzehnten wurde so viel von der chinesischen Kultur zerstört. Legenden und Geschichten aber scheinen etwas vom kulturellen Erbe Chinas zu sein, das überlebt hat.» «Was meinst du konkret mit Zerstörung chinesischer Kultur?», frage ich nach. «Eigentlich ist das gesamte vergangene Jahrhundert geprägt von der Ablehnung alter Denkweisen und Sitten», erklärt Melchior. «Schon vor der Mao-Ära haben Reformer traditionelle Lebensweisen abgelehnt. Und unter Mao hat die chinesische Kultur durch seine vielen Kampagnen unglaublichen Schaden erlitten. Zum Beispiel hat Mao während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 angeordnet, aktiv und mit Gewalt die Vier Alten zu zerstören. Gemeint waren damit alte Denkweisen, alte Kulturen, alte Gewohnheiten und alte Sitten. Legenden wie die von Meng Jiang Nü aber scheinen das vergangene kulturzerstörende Jahrhundert überdauert zu haben.» Ich stimme zu. Wir haben in den vergangenen Wochen tatsächlich mehr chinesische Legenden gehört als wir Schweizer Geschichten kennen. Warum das wohl so ist?

Am späten Nachmittag machen wir uns wieder auf den Heimweg. Als wir wieder im Dorf unterhalb der Mauer ankommen, wartet schon unser Bus auf uns. Zufrieden und mit vielen neuen Eindrücken machen wir uns auf den Heimweg und freuen uns auf unsere nächsten Entdeckungen in Peking.

Mauer

Interessante Zahlen und Fakten

700-221 v. Chr. | Es werden erste kleine Mauern gebaut, die als Vorläufer der heutigen Mauer gelten. China ist zu dieser Zeit noch nicht geeint und es existiert eine Vielzahl an Fürstentümern. Die Mauern werden als Schutzwälle zwischen verschiedenen Fürstentümern gebaut. Es handelt sich meistens um Erd- und Steinwälle oder um Holzkonstruktionen.

221-210 v. Chr. | Qin Shihuangdi vereint die Fürstentümer zu einem Kaiserreich und lässt eine durchgehende Mauer zum Schutz vor nördlichen Feinden errichten.

581-618 n. Chr. | Nachdem China erneut einige Jahrhunderte zersplittert gewesen ist, können die Sui-Herrscher China wiedervereinen und die Mauer wird wieder genutzt, um nördliche nomadische Eindringlinge abzuwehren. Mithilfe von angeblich einer Million Männer wird die Mauer zwischen 606 und 617 n. Chr. restauriert und ergänzt. Die Hälfte der Arbeiter soll dabei umgekommen sein.

1368-1636 n. Chr. | Nachdem man der Mauer über mehrere Jahrhunderte hinweg kaum Beachtung geschenkt hat, gewinnt sie unter der Herrschaft der Ming wieder an Bedeutung. Die vorangehende Eroberung durch die Mongolen aus dem Norden hat traumatisch auf die Herrscher der Ming-Dynastie gewirkt und es soll mit allen Mitteln verhindert werden, dass ein Angriff aus dem Norden jemals wieder erfolgreich ist. Während der Ming-Zeit wird die Mauer mit festem Gestein verstärkt. Die heutige Form der Mauer ist geprägt von der Ming-Bauweise.

1912-1949 n. Chr. | Zur Zeit der Republik und des Bürgerkriegs herrscht grosse Armut und das Baumaterial ist knapp. Die Steine der Mauer werden von der lokalen Bevölkerung als Baumaterial für neue Häuser verwendet.

Ab 1949 n. Chr. | Die Mauer wird von China als Symbol ehemaliger kultureller und technischer Überlegenheit angepriesen.

Laut offiziellen chinesischen Messungen erstreckt sich die Chinesische Mauer über eine Länge von 21’196.18 km. 

Bildquelle: Newebcreations

Quellen und mehr zum Thema:

„Acht Infos zur Chinesischen Mauer“: Artikel in Süddeutsche Zeitung vom 20.11.2014

„Eine Zeitreise durch Chinas Geschichte“: Reportage von SRF DOK

„Die große Mauer“: Seminararbeit von Björn Mahr, Fakultät für Ostasienwissenschaften an der Ruhr Uni Bochum