#11 China auf der Spur

Wir leben nun schon einige Monate in Peking und fühlen uns inzwischen sehr wohl in unserem derzeitigen Zuhause. China ist für uns nach wie vor ein Land voller ungelöster Rätsel, obwohl wir uns nun schon einige Zeit mit den Chinesen und ihrer Kultur beschäftigen. Wir wurden in den letzten Monaten immer wieder gefragt, warum wir denn so lange in China bleiben und was uns so gut gefällt hier. Eine einfache Antwort darauf habe ich nicht. Was ich aber mit Sicherheit sagen kann ist, dass uns der Alltag in der chinesischen Hauptstadt jeden Tag erneut herausfordert. Und wir lieben Herausforderungen. In dieser Reportage möchte ich euch einen Einblick in unseren Alltag in diesem faszinierenden Land geben und wie wir täglich versuchen, den vielen Fragen auf den Grund zu gehen, die sich uns hier stellen.

Viele Pekingerinnen und Pekinger fahren auf öffentlichen Fahrrädern zur Arbeit.

Die Tage in Peking sind kürzer und kälter geworden. Es ist ein kühler, sonniger Donnerstagmorgen und wir sind unterwegs zur Schule – diesmal wieder mit dem Bus. Noch etwas verschlafen beobachten wir an der Bushaltestelle den Verkehr. Ob auf bunten öffentlichen Fahrrädern, Elektrorollern oder im Auto, morgens fahren zahlreiche Menschen von den äusseren Ringen Pekings zur Arbeit ins Innere der Stadt. Nachdem wir uns letzte Woche einmal auf das Abenteuer «U-Bahn» zur morgendlichen Rushhour eingelassen haben, sind wir uns einig, dass wir es bei dem einen interessanten Erlebnis belassen werden. Die Chinesen scheinen sich von den grossen Menschenmassen nicht beeindrucken zu lassen.  Bei uns Schweizern hingegen löst alleine der Gedanke daran, am Morgen vor der Schule einen Quadratmeter U-Bahn mit 15 anderen Menschen teilen zu müssen, ein leicht beklemmendes Gefühl aus. Deswegen nehmen wir auch heute wieder den Bus. Dort sind es nur etwa fünf Leute pro Quadratmeter. Wir quetschen uns in den Bus und bahnen uns vier Stationen später wieder einen Weg aus dem Bus heraus. Nachdem wir die erste Hürde des heutigen Tages erfolgreich gemeistert haben, lassen wir uns von einem Strom von Chinesen in Richtung Schule treiben. Die Luftqualität ist heute nicht sonderlich gut und ich bereue bereits, meine Maske nicht mitgenommen zu haben. Anfang Oktober war die Luftverschmutzung in Peking noch auf einem gefühlten Rekordtief. Anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Volksrepublik China hat die Regierung unzählige Fabriken vorübergehend schliessen lassen, um während der Feierlichkeiten in Peking eine bessere Luftqualität zu gewährleisten. Diese Fabriken scheinen jetzt einiges nachzuholen zu haben. Nach einem drückend heissen Sommer, in dem das Thermometer nicht selten die 40°C-Marke erreicht hat, zeigt sich uns Peking nun von einer ganz anderen Seite. Wir wurden im Sommer mehrmals vorgewarnt: «Geniesst den Herbst. Er dauert in Peking circa eine Woche lang. Danach wird es Winter und der Winter wird kalt.» Das scheint er nun zu sein, der Beginn eines langen Winters in Peking. In der Schule angekommen, machen wir uns noch einen Tee, bevor es mit dem Unterricht losgeht. Wir wiederholen in der ersten Lektion eine Struktur: «Falls ich einmal viel Geld haben werde, dann kaufe ich mir eine Villa, eine Limousine, eine Gucci-Tasche, was ihr wollt. Macht ein Beispiel!», fordert uns unsere Lehrerin auf. Diesen Übungssatz müssen wir nicht zum ersten Mal bilden. Als wir die Satzstruktur lernten und dabei sagen mussten, was wir uns mit viel Geld kaufen würden, versuchten wir unserer Lehrerin zu erklären, dass wir eigentlich nicht vorhatten, uns Luxusgüter dieser Art zu kaufen und unser Geld sinnvoller ausgeben würden. Da unser Erklärungsversuch letztes Mal allerdings nicht wie beabsichtigt ein besseres Beispiel, sondern leichte Genervtheit auf Seiten unserer Lehrerin zur Folge hatte, tun wir ihr heute den Gefallen und machen ihr und der Struktur zuliebe ein Beispiel. «Falls ich einmal viel Geld haben werde, dann kaufe ich mir einen Tesla», sage ich auf Chinesisch und hoffe, dass ich sie mit meinem Beispiel zufrieden stellen kann. «Warum denn einen Tesla und nicht einen BMW? Magst du denn die Marke Tesla?» Scheinbar doch kein gutes Beispiel. Unsere spanische Mitschülerin sagt, sie würde sich mit viel Geld eine Weltreise leisten. Begeistert erzählt uns unsere Lehrerin, dass man für nur 50’000 Yuan (ca. 7’000 CHF) in 54 Tagen mit einem Kreuzfahrtsschiff einmal um die Welt fahren kann. Oder für nur 15’000 Yuan (ca. 2’100 CHF) in 15 Tagen zum Nordpol und zurück. Eine weitere grammatikalische Struktur anwendend sollten wir uns für eine der beiden Optionen entscheiden.

Bild unseres Klassenzimmers

Wieder so ein Beispiel. Meiner Lehrerin zuliebe wähle ich die erste Option aus, obwohl Kreuzfahrten nun wirklich nicht meine bevorzugte Art zu reisen sind. Ungläubig erzählt sie uns anschliessend, dass sie einmal einen deutschen Schüler hatte, der innerhalb von zwei Monaten mit dem Fahrrad von Deutschland nach Peking gefahren sei. «Stellt euch das einmal vor! Der Junge kommt aus einer reichen Familie», erzählt sie uns erstaunt. «Seine Eltern sind beide gutverdienende Ärzte, haben drei eigene Kinder und ein Adoptivkind. Er selber hat einen Universitätsabschluss und hätte genug Geld gehabt, sich einen Flug nach Peking zu leisten! Und trotzdem ist er mit dem Fahrrad hierher gefahren. Könnt ihr euch das vorstellen?» Melchior und ich schauen uns an. Wir sind beeindruckt und empfinden auf Anhieb Sympathie für den jungen Mann. «Das hätten wir auch tun sollen», meint Melchior augenzwinkernd und erntet dafür einen entsetzten Blick von unserer Lehrerin. Nicht zum ersten Mal seit wir hier sind amüsieren wir uns darüber, wie stark sich unsere Werte sowie unsere Vorstellungen von einem guten Leben von denjenigen vieler Chinesen unterscheiden.

Mittags gehen wir mit Lily essen. Lily war im Sommer unsere Chinesisch-Lehrerin. Sie ist eine äusserst fröhliche Person und wir haben uns vom ersten Tag an sehr gut mit ihr verstanden. Ihr haben wir nicht nur grosse Fortschritte zu verdanken, sondern auch viele Einblicke in die chinesische Kultur. Lily hat heute ihren jüngeren Sohn in die Schule mitgenommen. Er kommt ebenfalls mit ins Restaurant. Ich erinnere mich, wie sie uns ganz am Anfang erzählte, dass sie ihrem jüngeren Sohn bei der Geburt keine Identitätskarte hatte ausstellen lassen. Damals galt noch die 1979 eingeführte Ein-Kind-Politik, die erst Anfang 2016 in eine Zwei-Kind-Politik umgewandelt wurde. Lilys zweiter Sohn wurde vor 2016 geboren und war folglich ein «illegales» Kind. Wer zwischen 1979 und 2015 ein zweites Kind bekam, musste mit Sanktionen wie hohen Geldstrafen oder Verlust der Arbeitsstelle rechnen. Nicht selten wurde die strenge Geburtenkontrolle mit Zwangsabtreibungen durchgesetzt. Lily erzählte uns im Sommer, dass eine gute Freundin von ihr ihr zweites Kind anmeldete und eine Geldstrafe von umgerechnet rund CHF 50’000 bezahlen musste.

«Was möchtet ihr essen?», fragt uns Lily. «Hier sind die Jiaozi 饺子 besonders gut.» Wir vertrauen ihr und bestellen drei verschiedene Sorten Dumplings und teilen sie uns. Während wir auf das Essen warten, zeigt uns Lily eine App auf ihrem Smartphone. «Das hier ist die App, die ich im August erwähnte, nachdem ihr mir von eurem seltsamen Erlebnis im Park erzählt hattet», teilt sie uns lachend mit. «Damit können sich junge Chinesinnen und Chinesen einen Freund oder eine Freundin über die Feiertage mieten, wenn sie von ihren Eltern unter Druck gesetzt werden, bald zu heiraten», erzählt sie uns. Der Dienst kostet bis zu CHF 1’400 pro Tag während der Feiertage – je nachdem, wie weit der gemietete Partner reisen muss und wie leicht sich die Eltern überzeugen lassen. Wir hatten Lily im August von einem für uns äusserst merkwürdigen Parkbesuch erzählt. In einem öffentlichen Park trafen wir eine Szene an, die uns an eine Art Flohmarkt erinnerte. Entlang eines Kanals sassen Chinesen im Alter unserer Eltern und unterhielten sich miteinander. Vor ihnen auf dem Boden hatten sie sorgfältig A4-Blätter ausgebreitet. Erst nach genauerem Hinsehen und Übersetzen der chinesischen Zeichen wurde uns klar, dass es sich um Steckbriefe ihrer 25- bis 35-jährigen Kinder handelte. Wir waren auf einem chinesischen Partnervermittlungsmarktplatz gelandet, den verzweifelte chinesische Eltern ihrer Kinder wegen organisiert hatten. Als mich eine ältere Dame an der Hand nahm und zum Steckbrief ihres Sohnes zog, wurde es uns zu bunt und wir verliessen den Park wieder. Zu unserem Erstaunen fand Lily nichts Merkwürdiges an unseren Schilderungen, als wir ihr im August von unserem Erlebnis erzählten. «Ich werde das für meine Söhne auch einmal tun, falls sie keine Freundinnen finden. Mir ist wichtig, dass die beiden gute Frauen heiraten», war damals ihre Reaktion. 

Chinesische Eltern suchen in einem Pekinger Park nach geeigneten Partnern für ihre Kinder.

Das ist nun also besagte App – «Hire Me Plz» –, die sie uns hier vorführt. «Das Heiraten ist für viele junge Leute in China ein heikles Thema», erzählt Lily weiter. Junge Chinesinnen und Chinesen heirateten immer später. Der Druck auf junge Leute, vor Dreissig zu heiraten und Kinder zu bekommen, sei allerdings enorm. Nicht selten würden so Familienfeste, bei denen junge Erwachsene ohne festen Freund oder feste Freundin auftauchten, zu einem unbequemen Verhör. «Ich erinnere mich noch an die Zeit, als ich in dem Alter war», lacht Lily. Mir fällt wieder ein, wie befremdend dieses Parkerlebnis damals für mich war und was für ein seltsames Gefühl ich noch Stunden nach dem Parkbesuch hatte. Wie absurd wäre es, wenn Eltern in der Schweiz für ihre Kinder in Pärken nach geeigneten Partnern Ausschau halten würden? Unvorstellbar.

Am Abend gehen wir an eine Veranstaltung in der indischen Botschaft. Beim Eingang werden wir von zwei streng aussehenden Wächtern empfangen. «Your passport», sagt einer schroff, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Ich überreiche ihm meinen Pass und nachdem er mehrmals von meinem Bild im Pass zu mir und wieder zurückgeblickt hat, gewährt er mir Einlass. Der heutige Event ist nur für Waiguoren 外国人, Ausländer, bestimmt. Kurz nach Beginn der Veranstaltung wird mir bewusst warum. Karoline Kan, eine junge Chinesin in meinem Alter, erzählt ihre Lebensgeschichte und die ihrer Vorfahren. Es ist das erste Mal, dass ich in China eine Chinesin höre, die so offen über ihr Land, ihre Familie und das Leben von chinesischen Millennials spricht. Karoline wurde 1989 in einem armen, ländlichen Dorf in der Nähe von Tianjin geboren und ist das zweite Kind ihrer Eltern. Zu Beginn ihres Vortrags zeigt sie ein Bild, auf dem alte Frauen zu sehen sind, die auf einer Bank sitzen und denen die Füsse klein gebunden werden. Sie beginnt ihre Erzählungen mit ihrer Urgrossmutter, die eine jener Frauen war, denen die Füsse abgebunden wurden, und fährt mit ihrer Grossmutter fort, die jenem schmerzhaften Schicksal knapp entkam. Sie erzählt, wie ihre Mutter Ende der 80er-Jahre der Ein-Kind-Politik trotzte und Karoline trotzdem zur Welt brachte, obwohl ein zweites Kind damals verboten war. Gebannt hört das Publikum ihren Schilderungen zu, wie ihre Mutter sich selbst zur Lehrerin ausbildete zu einer Zeit, als Frauen keine Aussicht auf eine gute Ausbildung hatten. Sie berichtet weiter davon, wie sich ihre Mutter auf ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden einliess, um Karoline trotzdem zu bekommen und dabei schliesslich ihre Stelle als Lehrerin wieder verlor. Die Rolle der Frau sei damals klar definiert gewesen, erklärt sie. Eine Frau hatte nicht zu arbeiten, sondern ein Kind zur Welt zu bringen und den Haushalt zu führen. In ländlichen Gebieten Chinas habe sich das bis heute nicht geändert. «Ich schätze mich enorm glücklich, dass ich als erste Frau meiner Familie eine gute Ausbildung geniessen durfte. Ich musste allerdings auch sehr hart dafür arbeiten, um heute da zu sein, wo ich bin», fährt sie fort. Noch heute habe sie Albträume vom Gaokao 高考, der landesweit einheitlichen Aufnahmeprüfung für chinesische Hochschulen. «Der Gaokao ist meiner Meinung nach eine gute Sache. Alle Chinesen müssen an denselben zwei Tagen im Jahr dieselbe Prüfung schreiben. So haben auch junge Chinesen aus schlechteren Verhältnissen die Chance, es an eine gute Universität zu schaffen. Natürlich können sich reichere Pekinger Familien einen teuren Nachhilfelehrer für ihr Kind leisten, während das Eltern aus ärmeren Gegenden nicht können. Aber die Prüfung ist für alle gleich», meint Karoline.

Im Anschluss an ihren Vortrag beantwortet Karoline Fragen aus dem Publikum. «Karoline, kannst du uns noch etwas mehr über chinesische Millennials, ihre Hoffnungen und Träume erzählen?», fragt eine ältere Dame aus der hintersten Reihe. Karoline erzählt daraufhin, dass chinesische Millennials grosse Erwartungen an die Zukunft ihres Landes hätten. «In China ist es zu unseren Lebzeiten stets aufwärts gegangen. Ich denke, dass meine Generation optimistisch in die Zukunft blickt und erwartet, dass es so weitergeht.» Selbstverständlich kämen auch grosse Herausforderungen auf ihre Generation zu wie die Überalterung der Gesellschaft. Generell seien Menschen in ihrem Alter der Zukunft gegenüber jedoch positiv eingestellt. Auf eine weitere Frage zur demografischen Entwicklung Chinas hin antwortet sie, dass viele chinesische Millennials auch nach der Abschaffung der Ein-Kind-Politik gar nicht mehr als ein Kind haben möchten. Viele junge Leute wüssten nicht, wie sie Beruf und Kinder vereinbaren sollten. Schon ein Kind grosszuziehen koste viel Geld und das Leben in Chinas Städten sei so teuer geworden, dass man sich kein zweites Kind leisten könne. «Die Regierung ergreift inzwischen Massnahmen, um das demografische Ungleichgewicht zu beheben und lanciert Kampagnen, mit denen sie junge Chinesen für ein zweites Kind zu begeistern versucht. Ich erinnere mich an eine Werbung, die ich kürzlich in der U-Bahn gesehen habe: 100 Gründe für ein zweites Kind stand darauf», erzählt sie lachend.

Nach der Veranstaltung bestellt uns Melchior ein DiDi. Beeindruckt vom heutigen Abend diskutieren wir während der Heimfahrt über Karolines Sicht auf ihr Land. Die junge Chinesin hat uns mit ihrem Mut und ihrer für chinesische Verhältnisse äusserst seltenen Offenheit imponiert. Wir sind uns bewusst, dass wir so schnell nicht wieder einen derart offenen und ehrlichen Einblick in die Denkweise einer Chinesin erhalten werden, die ihr gesamtes Leben in China verbracht hat und trotzdem die Worte findet, ihr Land für Ausländer zugänglich zu machen. Nach dem heutigen Abend sind wir uns einig, dass wir uns den Chinesen und ihrer Kultur ein kleines Stück näher fühlen. Unser Chauffeur hält vor dem Tor zu unserem Quartier. Wir steigen aus und gehen das letzte Stück zu Fuss. Zuhause angekommen liege ich noch eine Weile wach im Bett und lasse den Abend Revue passieren. Eine Aussage von Karoline lässt mich nicht mehr los: «Ihr müsst verstehen, dass für einen Chinesen das Heimatland oberste Priorität hat. Danach kommt die Familie und erst zum Schluss die individuellen Bedürfnisse. Ausländer haben oft Mühe, das zu verstehen.» Für mich ist es eine der zentralen Aussagen des heutigen Abends, die mich noch weiter beschäftigen wird. Ich bin überzeugt, dass Karoline uns heute Abend eine neue Perspektive auf China gezeigt hat, die für mich ein wichtiger Schlüssel sein wird, China besser zu verstehen.

Interessante Zahlen und Fakten

1979 wurde in China eine Ein-Kind-Politik eingeführt, um das explosionsartige Bevölkerungswachstum zu bremsen und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Als die Ein-Kind-Politik Ende 2015 aufgehoben wurde, zählte die Volksrepublik 1.37 Milliarden Einwohner. Ohne Intervention wären es laut damaliger Schätzungen von Befürwortern der Ein-Kind-Politik gut 400 Millionen mehr gewesen. Durch die inzwischen abgeschaffte Regel verschob sich das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern: Kurz vor der Abschaffung kamen knapp 116 neugeborene Jungen auf 100 Mädchen. Gründe dafür sind unter anderem, dass weibliche Föten gezielt abgetrieben wurden und dass die Landbevölkerung das Recht auf ein zweites Kind erhielt, wenn das erste ein Mädchen war. Bis 2020 soll es in China schätzungsweise 30 Millionen mehr Männer geben als Frauen – 30 Millionen Männer, die in China schon rein rechnerisch nie eine Frau finden werden. Dass junge Frauen aus südlichen Nachbarsstaaten nach China verschleppt und zwangsverheiratet werden, ist eine der traurigsten Auswirkungen, die die Ein-Kind-Politik bisher mit sich gebracht hat. Für chinesische Frauen erhöht sich durch das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern die Chance, Männer aus einer höheren sozialen Schicht zu heiraten. Die Ein-Kind-Politik galt in China niemals für die gesamte Bevölkerung – so waren beispielsweise die 55 ethnischen Minderheiten davon ausgenommen. Zudem wurde die Ein-Kind-Politik nach 2010 gelockert, so dass Paare zwei Kinder bekommen durften, wenn eines der Elternteile ein Einzelkind war. Seit Anfang 2016 dürfen Paare in China zwei Kinder bekommen. Die chinesische Regierung erhoffte sich mit der Einführung der Zwei-Kind-Politik einen Baby-Boom, der für demografische Entspannung sorgen sollte. Bisher fiel dieser allerdings aus.

Quellen und mehr zum Thema:

„Chinas ‹Ein-Kind-Politik› und ihre massiven Folgen“: Sendung International auf Radio SRF 4 News vom 10. Dezember 2016

China beendet offiziell seine Ein-Kind-Politik“: Artikel auf Spiegel Online vom 27.12.2015

„Der Baby-Boom in China bleibt aus“: Artikel auf Tagesschau.de vom 06.03.2019

„Vietnamesinnen werden nach China verschleppt“: Artikel auf Tagesspiegel.de vom 02.07.2014

„Hire Me Plz“: Chinesische App für temporäre Partnervermittlung

„China girlfriend rental app gets leg up from Lunar New Year demand“: Artikel auf Reuters vom 26.01.2017

Artikel über Karoline Kan in The New York Times, The Guardian und The Spectator

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