#2 Rimessen für Nepal

Nachdenklich blickt Amir an mir vorbei auf die Strasse. Sein Ausdruck ist ernst. Es ist seine letzte Woche hier in Nepal. Schon bald wird er seine Familie, seine Freunde, sein Leben hier zurücklassen. Wann und ob er wieder zurückkommen wird, weiss er nicht. «Amir ji, möchtest du noch etwas trinken?», frage ich. Amir reagiert nicht. Auf der Strasse fährt eine Rikscha mit zwei europäischen Touristen beinahe in einen entgegenkommenden Lastwagen. Den Touristen steht der Schreck ins Gesicht geschrieben. Ich muss schmunzeln. Als ich vor einigen Wochen nach Nepal kam, bereiteten mir die waghalsigen Überholmanöver der Nepalesen auch noch Sorgen. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. «Amir ji, woran denkst du?», versuche ich erneut, Amir aus seinen Gedanken zu holen. Amir blickt mich an, noch immer sehr ernst. «Warst du schon einmal in Kenya?», fragt er und schaufelt sich einen weiteren Löffel Zucker in seinen Espresso, der ihm nicht besonders zu schmecken scheint und inzwischen wahrscheinlich kalt ist. Wir sitzen in einem Café in Sauraha, einer kleinen Stadt im Süden Nepals. Jedes Jahr kommen rund 200‘000 Touristen hierhin, um den Chitwan-Nationalpark zu besuchen. Im Vergleich zu anderen Städten in Chitwan ist Sauraha ziemlich modern. Die Hotels sind relativ sauber, in den Restaurants kann man Burger und Pizza bestellen, das WLAN in unserem Café funktioniert einwandfrei. Doch auch hier gibt es täglich Stromausfälle, die Strassen und die Luftqualität sind schlecht und es riecht nach verbranntem Müll und ungefilterten Abgasen.

Amir zog vor einem Jahr nach Bharatpur, eine Nachbarsstadt von Sauraha, um zu arbeiten. Er hatte an der Universität in Pokhara Betriebswirtschaftslehre studiert in der Hoffnung, nach dem Studium einen gut bezahlten Job zu finden, so dass er später einmal für sich und seine Familie sorgen und ein Haus kaufen kann. Nach einem Jahr in Bharatpur hatte Amir jedoch kaum etwas auf die Seite legen können. Als Produktmanager verdiente er rund US$ 300 pro Monat. Für den Alltag war das genug. Wenn er jedoch bedachte, dass seine Freunde, die im Ausland  arbeiteten, jeden Monat US$ 1‘500 sparen und einen grossen Teil davon nachhause schicken konnten, war das zu wenig. Wie viele andere junge Nepalesen verspürte auch Amir den Drang, ins Ausland zu gehen und mehr Geld zu verdienen. Vor einem Monat erklärte ihm sein Vater schliesslich, er habe ihm einen Job in Nairobi gefunden. Sein Onkel arbeitet dort für ein Unternehmen, das Elektrogeräte herstellt, und kann ihm zu einem Arbeitsplatz verhelfen. Was ihn dort genau erwarten wird, weiss Amir nicht. Weder was seine Aufgaben sein werden noch wie viel er verdienen wird. Damit ist Amir nun einer von vielen nepalesischen Männern, die von ihrer Familie ins Ausland geschickt werden. «Meine Familie erwartet das von mir», erklärt Amir, «ich kann meinem Vater nicht widersprechen. Und ich möchte meine Familie ja auch finanziell unterstützen. Ich bin der einzige Sohn meiner Eltern. Es ist meine Pflicht. Ausserdem sind die meisten meiner Freunde ja sowieso nicht mehr hier. Viele sind in Australien oder Japan studieren gegangen. Danach sind sie nicht mehr zurückgekehrt.» Amirs Worte stimmen mich nachdenklich. Irgendwie fällt es mir schwer nachzuvollziehen, wie es besser sein kann, alles zurückzulassen und völlig alleine in einem fremden Land unter teils unmenschlichen Arbeitsbedingungen Geld zu verdienen, als zuhause bei der Familie zu bleiben, in einer Kultur, die einem vertraut ist. In der Schweiz habe ich immer wieder über die Arbeit von Nepalesen in den Golfstaaten gelesen. Betrug, Ausnützung der Arbeitskräfte und Menschenrechtsverletzungen fallen mir dazu ein. Wie kann man sich nur wünschen, an einem solchen Ort zu arbeiten? Ich frage mich ernsthaft, ob solche Nachrichten die Nepalesen nicht erreichen.

Unübersehbar und überall: Werbung für Arbeit und Studium im Ausland.

«Wie viel müsstest du denn verdienen, damit du hier bleiben würdest?», frage ich Amir. Nach kurzem Überlegen meint er: «Mindestens US$ 800 pro Monat. US$ 300 für den Alltag und US$ 500, die ich für ein Haus und meine zukünftige Familie sparen kann. Das ist immer noch weniger als ich im Ausland sparen könnte, aber es würde reichen.» Ob wohl alle Nepalesen so denken, frage ich mich. So wie ich Nepal bis jetzt wahrnehme, leben die Menschen hier nicht in einer lebensbedrohlichen Armut, wie man sie zum Beispiel aus Berichten über den Jemen kennt. Die Armut hier erscheint mir eher eine Armut an Möglichkeiten und Perspektiven zu sein. «Mir ist bewusst, dass es für unsere Wirtschaft nicht gut ist, wenn alle jungen Männer abwandern», fährt Amir fort. «Aber was sollen wir denn machen? Es gibt hier keine anständigen Jobs. Unsere Wirtschaft ist eine extrem passive Wirtschaft. Alle gut ausgebildeten Männer sind nicht mehr hier. Zurück bleiben vor allem alte Leute, Frauen und Kinder.» 

Es fällt mir schwer, darauf etwas zu erwidern. Natürlich wäre es besser, wenn die gut ausgebildeten jungen Leute im Land bleiben und hier helfen würden, eine gut funktionierende, stabile Wirtschaft aufzubauen. Aber was will ich Amir belehren… Ich lerne sein Land und seine Kultur erst seit wenigen Wochen kennen. An seiner Stelle würde ich wahrscheinlich auch nicht bleiben und ebenfalls darauf hoffen, im Ausland mehr Glück zu haben.

Glück. Die Frage danach, was einen denn wirklich glücklich macht im Leben, die Zufälligkeit und das Schicksal des Geburtsorts beschäftigen mich seit meinem ersten Tag in Nepal. Wurde ich im Gewinnerland geboren und Amir im Verliererland? Ich kann zum Spass in die Richtung reisen, aus der Tausende von Menschen gerne in die Schweiz kommen würden, jedoch höchstwahrscheinlich nie die Möglichkeit dazu haben werden. Das ist doch ungerecht! Aber was kümmert mich das? Ich kann ja wieder nachhause gehen, wann es mir passt, zurück in die Sicherheit und in den Wohlstand. Immer mehr hinterfrage ich auch die Arroganz von uns Europäern, unsere Vorstellung von Glück als Mass der Dinge zu betrachten. Wer entscheidet, was eine legitime Vorstellung von Glück ist? In den vergangenen Wochen ist mir immer wieder aufgefallen, dass die Nepalesen eine ganz besondere Lebensfreude haben. Sie sind stets freundlich und hilfsbereit, sie nehmen vieles nicht so ernst wie wir Schweizer und ich habe den Eindruck, dass für sie das Wort «Leistungsdruck» ein Fremdwort ist. Es tut mir sehr gut, diesen Druck – sei es der Druck pünktlich zu sein, Abgabetermine einzuhalten oder tausend Sachen unter einen Hut bringen zu wollen – nicht so stark zu spüren wie in der Schweiz. Sind wir Schweizer denn glücklich? Mit unserem Wohlstand, unseren unbegrenzten Möglichkeiten und den Versicherungen, mit denen wir uns gegen jedes erdenkliche Unglück absichern können, sollte das eigentlich der Fall sein. Und doch denke ich, dass in unserem Land sehr viele Menschen unglücklich sind. Würde ich das Amir so sagen, würde er mich wahrscheinlich nicht verstehen. Glaubt man einer Schweizerin, die einem wohlhabender, zufriedener und erfolgreicher vorkommt als man selbst, wenn sie sagt: «Bei uns in der Schweiz ist gar nicht alles so toll, wie du denkst.»? Sehr wahrscheinlich nicht.

Wir fahren auf Amirs Motorrad zurück ins Büro. Die Fahrt zurück nach Bharatpur dauert eine halbe Stunde. Die Luft ist staubig und abgasverseucht, meine Augen brennen. Hier fährt alles, was einen Motor hat. Viele Gefährte, die in Europa längst nicht mehr zugelassen wären. Feinstaub und Partikelfilter? Hier hat man andere Sorgen. An den Strassenrändern wird Müll verbrannt. Eine Frau überquert mit ihren zwei Ziegen die Strasse. Wir fahren eine Viertelstunde durch den Dschungel. Auf einer Lichtung sehe ich einen Hirsch und zwei Rehe. 100 Meter weiter einen wilden Pfau. Als wir im Büro ankommen, ist es bereits nach 17 Uhr. Feierabend. Hier arbeitet man von 10 bis 17 Uhr, von Sonntag bis Freitag. Am nächsten Tag ist Amirs letzter Arbeitstag. Er wirkt irgendwie traurig. Niemand schenkt ihm wirklich Aufmerksamkeit. Ich frage bei unseren Teamkollegen nach, ob es in Nepal nicht üblich ist, jemanden mit einem Geschenk oder Apéro zu verabschieden. Nicht wirklich. Ich klappere eine Stunde lang alle Läden in der Umgebung ab auf der Suche nach einer schönen Karte, die wir ihm schreiben können. Gibt es hier nicht. Nur Karten zum Geburtstag oder zur Hochzeit. Sowieso, die Nepalesen in unserem Team finden es seltsam, dass mir das so wichtig zu sein scheint. Am Abend gehen wir mit Amir und Pradeep in eine Bar. Pradeep steht gerne im Mittelpunkt und erzählt uns ausführlich eine verrückte Geschichte, wie er als 17-Jähriger von zuhause weggelaufen ist nach Indien, um für seine Familie Geld zu verdienen. Amir wirkt in sich gekehrt, lässt Pradeep erzählen. Irgendwie nervt es mich, dass Pradeep sich so in den Mittelpunkt drängt. Eigentlich wollen wir ja Amir verabschieden. «Freust du dich denn auf deine neue Arbeit?», frage ich Amir, als Pradeeps Telefon klingelt und er kurz die Runde verlässt. «Nicht wirklich», ist seine Antwort. Er zündet sich eine Zigarette an und scheint nicht weiter über seine Abreise sprechen zu wollen. Wir ziehen weiter in eine traditionelle nepalesische Bar mit Livemusik. Ein seltsames Erlebnis mit seltsamer Musik, die sich ein wenig wie Bollywoodmusik anhört, und seltsam tanzenden Nepalesen. Die Leute starren uns an. Sie wollen sehen, wie Europäer tanzen. Wir tun ihnen den Gefallen und tanzen mit. Amir ist in seinem Element, er scheint seine Sorgen vergessen zu haben. Als wir uns gegen Mitternacht auf den Heimweg machen, sind die Strassen leer. Wir verabschieden uns von Amir und versprechen uns, in Kontakt zu bleiben.

Amirs Geschichte spielt sich im Leben vieler Nepalesen ab. Und doch geht mir seine Geschichte besonders nahe, weil sie die erste ist, die ich hier direkt mitbekommen habe. Amir heisst in Wirklichkeit nicht Amir, seine Geschichte basiert jedoch auf der Geschichte eines jungen Mannes, den wir bei unserer Arbeit in Bharatpur kennengelernt haben, und auf Gesprächen, die wir mit verschiedenen Nepalesen geführt haben. Amir wird in wenigen Tagen nach Nairobi fliegen. Ob er in den kommenden Jahren einmal nach Nepal zurückkommen wird, ist noch ungewiss.

Interessante Fakten

Der Tribhuvan International Airport in Kathmandu ist einer der wenigen Flughäfen weltweit, an denen Passagiere nicht nur nach Reiseklasse gesondert behandelt werden, sondern auch nach Reisegrund. Jährlich fliegen so viele Nepalesen als Gastarbeiter ins Ausland, dass am einzigen internationalen Flughafen in Nepal ein separater Eingangsbereich für sie geschaffen wurde, wo ihre Arbeitsbewilligungen geprüft werden.

Überweisungen aus dem Ausland, auch Rimessen genannt, machen in Nepal über 30% des Bruttoinlandproduktes aus. Hauptzielländer von Gastarbeitern sind Indien, Malaysia und die Golfstaaten. Unzählige Berichte von Gastarbeitern erzählen von Nepalesen, die mit falschen Versprechen ins Ausland gelockt werden und monatelang schwere Arbeit verrichten müssen, bis sie überhaupt erst ihren Pass wiederbekommen. 2013/14 wurden über 500‘000 Arbeitsbewilligungen ausgestellt, seither war die Zahl rückläufig (siehe Abbildung).

Quelle: Government of Nepal: Ministry of Labour and Employment

Quellen und mehr zum Thema:

«Nepals Exportschlager sind Arbeiter»: NZZ-Artikel vom 4.1.2017

«Am Beispiel Nepals zeigt sich, was in der Entwicklungshilfe unbeabsichtigt schieflaufen kann»: NZZ-Artikel vom 24.4.2018

«Vom Himalaya in die Hölle»: Bericht von Amnesty International vom 25.9.2018

«Rebuilding Nepal: Creating Good Jobs Amid Reconstruction and Migration»: Studie von Gregory Randolph and Prachi Agarwal, April 2018​