Habt ihr gewusst, dass der Lippenbär «Baloo» aus dem Dschungelbuch nicht nur zufällig «Baloo» heisst? «Baloo» ist Hindi (भालू bhālū) und bedeutet «Bär». Auch die anderen Namen der Figuren aus dem Dschungelbuch sind anscheinend bewusst gewählt. Das habe ich mir noch gar nie überlegt. Bis ich vor zwei Tagen vor «Baloo» stand und unser Reiseführer immer wieder «Baloo» rief. Anscheinend nennt man den Lippenbären auch in Nepal so. Wir haben die letzten zwei Tage den Chitwan-Nationalpark erkundet und gestern Melchiors 30. Geburtstag gefeiert.
Tag 1
Wir kommen am Mittag in Sauraha an und buchen für den Nachmittag gleich eine Jeeptour durch den Nationalpark. Nachdem wir den Fluss «Rapti» überquert haben, steigen wir auf das Dach unseres Jeeps. Es geht los. Die Suche nach Tieren beginnt. Unsere Blicke schweifen von links nach rechts und wieder nach links. Nach einer halben Stunde merken wir, dass es ziemlich anstrengend ist, aktiv nach Dschungelbewohnern Ausschau zu halten. Zum Glück ist da noch unser Reiseführer Sanjog, der jede Bewegung zwischen den Bäumen wahrnimmt und den Jeep immer wieder anhält. Zuerst zeigt er uns wilde Hirsche, später balzende Pfauen. Wir fahren an einem Checkpoint vorbei, neben dem ein ganzes Feld mit hohen Gräsern in Flammen steht. Ein imposanter Anblick! Und erst das Geräusch… Es hört sich an, als würde man permanent Feuerwerk zünden. Die Flammen sind etwa zehn Meter hoch und wir spüren die drückende Hitze des Feuers, als wir daran vorbeifahren. Scheinbar ist dies Tradition im Chitwan-Nationalpark: Jedes Jahr werden die hohen Gräser abgebrannt, damit neue nachwachsen können, und verhindert wird, dass auf den Grasflächen Bäume wachsen. Die Gräser gehören zur Hauptnahrung vieler Tiere im Nationalpark, die darauf angewiesen sind, dass die Grasflächen erhalten bleiben. Ob ein solch harter Eingriff in die Natur in die Philosophie eines Nationalparks passt?
Wir fahren immer tiefer in den Dschungel hinein und nach einer kurzen Pause laufen uns plötzlich ganz viele Dschungeltiere über den Weg. Zuerst sehen wir ein Nashorn, das friedlich auf einer Wiese grast. Daneben ein Krokodil, das sich am Ufer eines kleinen Sees sonnt. 100 Meter weiter steht gleich noch ein Nashorn mit seinem Baby. Das Kleine versteckt sich zwar hinter der Mutter, aber Melchior gelingt es trotzdem, ein paar gute Fotos der beiden zu schiessen. Auf dem Rückweg sehen wir mehr wilde Pfauen, Krokodile und schliesslich «Baloo», der uns auf der Suche nach Termiten zuerst gar nicht richtig wahrnimmt. Was für ein Nachmittag! Kurz nach Sonnenuntergang sind wir wieder zurück. Als wir den Fluss wieder überqueren möchten, läuft uns nochmal ein Nashorn über den Weg. Keine zehn Meter vor uns… Es sucht nach einer Stelle, an der es den Fluss ebenfalls überqueren und in die Stadt kommen kann. Sanjog erklärt uns, dass Nashörner zwar einen sehr guten Hör- und Geruchssinn haben, jedoch nur schlecht sehen. Sie fühlen sich angezogen von Geräuschen und kommen daher immer wieder in die Stadt. Wir erreichen Sauraha vor dem Nashorn und kehren mit vielen Eindrücken wieder in unser Hotel zurück.
Tag 2
Der Tag beginnt früh: Um 05:45 Uhr klingelt unser Wecker. Es ist Melchiors Geburtstag und wir möchten heute schon früh auf Safari gehen. Eine Stunde später warten wir am Fluss auf unser Boot. Die Stimmung ist atemberaubend schön. Die Sonne geht langsam auf, Nebelschwaden ziehen über das Wasser, die Luft ist angenehm kühl und wir können einfach nur staunen über das beeindruckende Bild, das sich uns zeigt. Gemeinsam mit acht weiteren Personen steigen wir in ein längliches, schmales Holzboot und lassen uns den Fluss hinuntertreiben. Unser Reiseführer, nennen wir ihn Maranga (seinen komplizierten Namen haben wir leider vergessen), kann zu jedem Vogel, den wir unterwegs sehen, etwas erzählen. Wenn wir ihn nicht verstehen, nimmt er sein Vogelbuch hervor und zeigt uns ihre Namen. Zwischendurch ist es ganz still und wir geniessen die friedliche Stimmung auf dem Fluss. Ab und zu taucht ein Krokodil vor uns im Fluss auf. Wir erfahren, dass es hier zwei Arten von Krokodilen gibt: Diejenigen mit einer langen, spitzen Schnauze, die nur Fische fressen, und die mit einer breiten Schnauze, die Fleisch fressen, egal welches. Beruhigend… Nach einer knappen Stunde legen wir an. Maranga erklärt uns vor unserer dreistündigen Wanderung durch den Dschungel kurz die Gefahren, die von verschiedenen Tieren ausgehen. «Nashörner können sehr gefährlich werden», erklärt er, «wenn eins auf euch zustürmt, müsst ihr im Zickzack wegrennen, so schnell ihr könnt. Und sucht euch entweder einen grossen Baum, hinter dem ihr euch verstecken, oder einen, auf den ihr hinaufklettern könnt. Es hilft auch, wenn ihr beim Rennen eure Jacke auszieht und sie hinter euch auf dem Boden liegen lasst.» Gut zu wissen, denken wir. «Zweitens, Tiger», fährt er fort. «Sollten wir einem begegnen, bleibt ganz ruhig stehen. Schaut ihm in die Augen und entfernt euch ganz langsam von ihm, Schritt für Schritt. Mit Tigern darf man nicht spassen, sie können extrem gefährlich werden.» Ich spüre, wie langsam Adrenalin in mir aufsteigt. Unser Begleiter ist nur mit einem langen Gehstock bewaffnet. Sonst haben wir nichts dabei, womit wir uns gegen ein wildes Tier wehren könnten. «Drittens, wilde Elefanten», erklärt er weiter. «Ich hoffe, dass wir ihnen nicht begegnen. Sie suchen sich in der Gruppe den Schwächsten oder die Schwächste aus und das kann ganz böse enden.» Wars das? «Und viertens, der Lippenbär. Ihm muss man zeigen, dass man stärker ist. Er sucht den Kampf. Es hilft eigentlich nur Klatschen, Brüllen, laute Geräusche.» Okay. Maranga ist gerade fertig mit seiner Erklärung, da sehen wir auf der anderen Flussseite ein Nashorn, das sich dem Flussufer nähert. Es hat uns wohl gehört und versucht jetzt, den Fluss zu überqueren und zu uns zu kommen. Wir beobachten gespannt, wie das Tier langsam durch den Fluss watet und immer näher kommt. Zum Glück liegt zwischen uns und dem Nashorn eine sandige Böschung, die es auch nach mehreren Anläufen nicht zu erklimmen schafft. Wir beginnen unseren Dschungelspaziergang. Enge Pfade führen uns durch dicht bewaldete Gebiete, abgebrannte, hohe Gräser, Dickichte und über plätschernde Bäche. Ich komme mir vor wie in einer Szene aus dem Dschungelbuch. Immer wieder halten wir an und lauschen. Wir beobachten die schönsten, buntesten Vögel, die wir je gesehen haben. Wilde Hühner ergreifen gackernd vor uns die Flucht. Affen schauen neugierig aus den Baumkronen auf uns herunter. Als wir uns nach drei Stunden wieder Sauraha nähern bin ich froh, dass wir heute keinem Tiger, Bären oder Elefanten begegnet sind. Den Nachmittag verbringen wir in einem Kaffee, schauen uns die Bilder von unseren beiden Ausflügen in den Dschungel an und am frühen Abend bestaunen wir den roten Sonnenuntergang auf unserer Terrasse. Die zwei Tage im Chitwan-Nationalpark haben sich definitiv gelohnt. Wir können eine Reise hierhin nur weiterempfehlen!
Interessante Fakten
Der Chitwan-Nationalpark wurde 1973 als Nepals erster Nationalpark gegründet und gehört seit 1984 zum UNESCO-Welterbe. Der Park erstreckt sich über eine Fläche von 932km2 und beheimatet eine der letzten Populationen einhörniger asiatischer Nashörner. Gleichzeitig ist er einer der letzten Schutzgebiete des Bengaltigers. Das Gebiet des heutigen Nationalparks wurde von der nepalesischen Oberschicht seit dem 19. Jahrhundert als Jagdgebiet genutzt. Auch aus dem britischen Königshaus reiste man an, um zu jagen. So erlegten King George V und sein Sohn, Edward VIII, 1911 während einer einzigen Safari 39 Tiger und 18 Nashörner. Erst 1957 wurde ein Gesetz erlassen, das Nashörner und deren Habitat unter Schutz stellte.
Quellen und mehr zum Thema:
Offizielle Website des Chitwan-Nationalparks
«Chitwan National Park»: UNESCO World Heritage List
«History of Chitwan National Park»: Lonely Planet