#5 Why does Nepal fail?

Einen Tag nach dem berühmten Holi-Festival sitzen Melchior und ich in einer gemütlichen Bar am Phewa-See in Pokhara. Wir beobachten die Boote auf dem See und die vorbeispazierenden Touristen. Es ist ein angenehm warmer Tag und nach knapp drei Monaten im lauten Bharatpur sind wir froh, einen ruhigen Ort gefunden zu haben. Auf dem Bildschirm schräg über uns wird ein Fussballspiel gezeigt. Melchior öffnet seinen Rucksack und holt ein Buch heraus. «Why Nations Fail» von Daron Acemoğlu und James A. Robinson. Ich habe das Buch vor unserer Abreise eingepackt, um es hier in Nepal zu lesen. Jetzt ist Melchior schon einige Seiten weiter als ich. Wie so oft in den letzten Wochen kommen wir wieder auf das Thema zu sprechen, das uns hier so sehr beschäftigt: «Why does Nepal fail?». Wir haben keine einfache Antwort auf die Frage. Und auch keine komplizierte. Nur unsere Eindrücke und Beobachtungen, mithilfe derer wir dieses Land zu beschreiben versuchen. Und ein paar Fakten aus dem Internet. Wie in unserer letzten Reportage beschrieben, verlassen jedes Jahr mehrere Hunderttausend Nepalesen das Land. Das BIP pro Kopf betrug 2017 laut Weltbank US$ 849. In der Schweiz lag es vergleichsweise bei US$ 80’190. Dabei haben Rimessen in den letzten Jahren über 30% des Bruttoinlandprodukts ausgemacht. Mehr als 60% der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig. Ein Grossteil davon als Selbstversorger. Mit diesen Zahlen liegt Nepal im weltweiten Vergleich auf einem ähnlich tiefen Niveau wie Länder in Subsahara-Afrika. So trifft man in ländlichen Gebieten Nepals nicht selten auf Menschen, die noch in winzigen Lehmhütten leben, über offenem Feuer kochen und mit einfachsten Mitteln Landwirtschaft betreiben. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich nach drei Monaten hier das Land noch bei weitem nicht verstehe und stattdessen eine lange Liste an unbeantworteten Fragen habe. Den Blick auf das Fussballspiel gerichtet meint Melchior: «Mir kommt es manchmal vor, als könnten die Nepalesen einfach nicht am Ball bleiben. Sie stehen auf dem Feld und man spielt ihnen den Ball immer wieder zu, aber sie machen nichts daraus.» Eine passende Metapher, finde ich. Anstatt zu kämpfen und alles daran zu geben, das Spiel zu gewinnen, steht Nepal ins eigene Tor und versucht verzweifelt, seinem Gegner keine Chance auf ein Tor zu lassen. Reine Defensive, null Offensive. Nur handelt es sich dabei für 30 Millionen Nepalesinnen und Nepalesen nicht um ein Spiel, sondern um ihr Schicksal.

Ich erinnere mich an meine letzte Fahrt von Kathmandu zurück nach Bharatpur. Suresh war gerade auf der Schweizer Botschaft gewesen, um sein Visum für seinen Besuch in der Schweiz abzuholen, und begleitete mich auf der Rückreise. Als wir im Taxi zum Busterminal auf einer auffällig guten Strasse ohne Schlaglöcher fuhren, erklärte er mir: «Diese Strasse haben die Chinesen gebaut.» Beeindruckend, denke ich mir. Diese mehrspurige Strasse unterscheidet sich grundlegend von all den anderen Strassen hier. Kein Geholper, keine Schläge in den Rücken… Es fühlt sich fast ein wenig an, als würden wir schweben. Der Vergleich mag etwas übertrieben wirken. Doch wenn man sich Schweizer Strassen gewöhnt ist, fällt es einem schwer, sich mit den schlechten Strassen in Nepal anzufreunden. «Eigentlich wäre es ja schön, wenn ihr diese Strasse gebaut hättet, nicht?», entgegne ich. Suresh lacht und meint: «Wenn wir diese Strasse gebaut hätten, dann wäre sie schon längst wieder voller Risse und Schlaglöcher.» Ich seufze und erwidere: «Aber das ist doch so schade! Es kann doch nicht so schwierig sein, eine Strasse zu bauen, die nicht nach ein paar Monaten wieder kaputt geht.» Suresh grinst mich an und weiss daraufhin wohl auch nicht mehr, was sagen. Für mich ist es das perfekte Beispiel für so vieles, was in diesem Land schiefläuft. Ich habe den Eindruck, dass die Nepalesen keinen Anspruch an Qualität haben. Und es scheint ihnen enorm schwer zu fallen, qualitativ bessere Infrastruktur zu bauen, Prozesse zu optimieren oder vorauszuplanen. Die schlechte Infrastruktur in diesem Land und der sorglose Umgang mit so ziemlich allem haben mich schon einige Male fast zur Verzweiflung gebracht. Ein paar Beispiele:

  • Es gibt kaum ein Fenster, das sich in Nepal richtig verschliessen lässt. Entweder wurde das Fenster schlecht eingebaut, der Fensterrahmen ist schräg oder das Fenster wurde gar nicht erst abgedichtet. Einige Zimmer unseres Hauses standen regelrecht unter Wasser nach dem letzten Sturm.
  • Leitungen (z.B. für Strom, Wasser) und Steckdosen sind willkürlich verlegt und eingebaut. Eine gerade gezogene Stromleitung an der Wand ist kaum anzutreffen. Elektriker scheinen nicht viel für Symmetrie und Ordnung übrig zu haben. Auch in puncto Sicherheit lassen viele Leitungen zu wünschen übrig.
  • Englische Rechtschreibung scheint hier kaum jemanden zu interessieren. Für viele Orte oder Namen gibt es vier oder fünf verschiedene Schreibweisen. Eigentlich praktisch, da man sich einfach die aussuchen kann, die einem am besten gefällt. In E-Mails oder öffentlichen Dokumenten stört es vielleicht etwas mehr, da man ja gerne verstehen möchte, was ein Autor mit seinem Text aussagen möchte. Wenn Kindern allerdings schon in der Schule falsche Rechtschreibung beigebracht wird, verwundert es wenig, wenn auch Erwachsene nicht wirklich gut schreiben können.
  • Der Umgang mit Antibiotika hat mich sehr schockiert, als ich in einer Apotheke war und nach einem Antibiotikum fragte. Zwar hat das nicht unbedingt mit Qualität oder Qualitätsbewusstsein zu tun, aber trotzdem möchte ich es an dieser Stelle nennen. Antibiotika werden ohne grosse Aufklärung verteilt. Sie sind weder rezeptpflichtig noch wird man darauf hingewiesen, dass man sie mehrere Wochen am Stück nehmen und nicht nach wenigen Tagen absetzen sollte. Es erstaunt mich daher nicht, dass Antibiotikaresistenz in Nepal ein ernsthaftes Problem ist. Dazu empfehle ich auch diesen kurzen Artikel, der es auf den Punkt bringt.

Gesehen in einer Primarschule in Chitwan. Man beachte die englische Übersetzung für Taube und Schildkröte.

Schlechte Luft- und Wasserqualität, ständige Stromausfälle, verantwortungsloser Umgang mit Abfällen und schlechte Produktverpackungen… Ich könnte noch einiges aufzählen, möchte aber nicht nur Negatives über dieses eigentlich so schöne Land schreiben. Generell kann man vielleicht sagen, dass Nepalesen nicht bereit sind für Qualität zu bezahlen und möglichst immer die günstigste Option wählen. So hat mir Suresh auch versichert, dass er nie Geld ausgeben würde für einen Dienst wie Netflix, wenn es ja Youtube gäbe, was kostenlos und seiner Meinung nach genauso gut sei.

Wir bestellen noch einen Kaffee in der Bar und führen unsere Diskussion fort. «In ‘Why Nations Fail’ wird beschrieben, welche Charakteristiken die politischen und ökonomischen Institutionen eines Landes aufweisen müssen, damit sich ein Land wirtschaftlich entwickeln kann», beginnt Melchior das Buch zusammenzufassen. «So ist laut den Autoren auf politischer Ebene ein zentral geführter Staat mit einer Regierung, die sich im ganzen Land durchsetzen kann und in der eine Vielzahl an Parteien Mitspracherecht hat, ausschlaggebend. Auf wirtschaftlicher Ebene muss das Recht auf privaten Besitz sowie ein unparteiisches Rechtssystem sichergestellt sein, öffentliche Dienstleistungen sollten den Menschen zur Verfügung stehen, damit sie miteinander handeln und Verträge eingehen können, und es sollte den Bürgern möglich sein, ihre Geschäftsideen ohne grosse Hindernisse umzusetzen. Ausserdem sollte freie Berufswahl gewährleistet sein, damit Fähigkeiten und Talente optimal genutzt und gefördert werden können.» Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee und überlege, ob Nepal diese Punkte erfüllt. Auf den ersten Blick eigentlich schon. Immerhin ist das nepalesische Parlament demokratisch gewählt und die Regierung setzt sich aus Vertretern mehrerer Parteien zusammen. Die Leute scheinen auch ihre eigenen Geschäfte zu haben, miteinander handeln und Verträge eingehen und ihren Beruf frei wählen zu können. Wenn man allerdings etwas genauer hinsieht, zeigt sich ein etwas anderes Bild. «Wenn Nepal all diese Punkte erfüllen würde, müsste es dem Land und dessen Industrie doch besser gehen», überlege ich. «Allerdings habe ich eher den Eindruck, dass es hier fast gar keine Industrie gibt. Mir scheint vielmehr, als sei die Industrialisierung in Nepal noch gar nicht angekommen.» Sämtliche industriell hergestellten Produkte müssen hier nämlich importiert werden. Autos, Küchengeräte, Elektronik und sogar Nahrungsmittel, die ein gewisses Mass an Verpackung oder Verarbeitung erfordern. So kann man in Chitwan, dem Distrikt mit der höchsten Milchproduktivität in Nepal, lokale Milch nur in Plastiktüten abgepackt kaufen. Will man pasteurisierte Milch im Getränkekarton, muss man in den Supermarkt gehen und importierte Milch aus Indien, Australien oder Europa kaufen. Hinzu kommt, dass für einige Importgüter wie Autos eine horrende Luxussteuer verrechnet wird. Je nach Grösse des Autos fällt eine Steuer von 65 bis 100% an. «Anscheinend ist es in Nepal doch nicht so einfach, ein Unternehmen aufzubauen», meint Melchior. «Zwar gibt es viele Quartierläden und kleine Restaurants, aber erfolgreiche nepalesische Marken und Produkte gibt es nur wenige. In Kathmandu hat mir ein freischaffender nepalesischer Journalist erklärt, es gäbe in Nepal gut 40 Akteure, die mehr oder weniger die gesamte Wirtschaft kontrollieren. Wenn man wirtschaftlich erfolgreich sein wolle, müsse man sich gegen diese wirtschaftliche Elite behaupten. Deren Interesse sei es natürlich, dass ihr neue Akteure die Marktposition nicht streitig machten. Der Journalist behauptete, Nepal sei ein Kartellstaat, in dem die wirtschaftliche Elite auch auf politischer Ebene starken Einfluss habe und somit auch die Gesetzgebung zu ihren Gunsten mitgestalten könne.» «Ich habe auch schon gehört, dass nepalesische Unternehmen, die zu schnell zu erfolgreich waren, plötzlich einfach vom Markt verschwunden sind», fällt mir ein. Unter solchen Umständen würde ich es mir wahrscheinlich auch gut überlegen, ob ich überhaupt ein Unternehmen gründen möchte. Während unserer Diskussion wird uns wieder einmal bewusst, wie schwierig eine gute Antwort auf die Frage ist, die wir uns immer wieder stellen. Why does Nepal fail? Neben den bereits beschriebenen Problemen lesen wir über zahlreiche weitere Faktoren wie Korruption, Kartelle und sich häufig ändernde Gesetze, die zusammenspielen und wirtschaftliches Wachstum einschränken. Noch immer scheinen wir nur einzelne Teile des Gesamtbilds zu sehen. Wir beenden das Thema für den Moment und beschliessen stattdessen, Pokhara zu erkunden.

Zwei Tage später sind wir wieder zurück in Bharatpur und gehen in eine Bäckerei im Stadtzentrum frühstücken. Inzwischen haben wir verstanden, wie die öffentlichen Verkehrsmittel in Bharatpur funktionieren. Wir stehen an den Strassenrand und halten den nächsten Magic-Bus an, der vorbeifährt. Für 15 Rupien (ca. 13 Rappen) pro Person fahren wir einmal quer durch die Stadt und lassen uns von lauter nepalesischer Partymusik zudröhnen. Neben Melchior sitzt ein Huhn, vor uns eine Frau mit etwa 100 Eiern in Eierkartons. Inzwischen ist der Magic-Bus schon fast zu unserem Lieblingsverkehrsmittel geworden. Der Busfahrer ist sehr bemüht, unterwegs weitere Passagiere aufzugabeln. Es gibt zwar so etwas wie Bushaltestellen, jedoch kann man eigentlich ein- und aussteigen, wo man möchte. Manchmal haben die Busfahrer sogar einen Assistenten dabei, der ihnen dabei hilft, nach potenziellen Passagieren Ausschau zu halten. Dieser Assitent steigt ab und zu auch aus, um alle Personen im Umkreis von zehn Metern zu fragen, ob sie nicht mitfahren möchten. Was für ein Engagement! Das ist für Nepalesen ganz schön aussergewöhnlich und als wir zum ersten Mal in einem Bus durch Bharatpur fuhren, haben wir uns schon sehr über die Tüchtigkeit der Busfahrer und ihrer Assistenten gewundert. Vermutlich würde es mehr wohlhabende Menschen in Nepal geben, wenn alle Geschäftsleute ihr Produkt so anpreisen würden wie Busfahrer ihre Mitfahrgelegenheit. Es hat uns schon oft überrascht, dass Geschäftsleute hier ihre Produkte gar nicht wirklich zu verkaufen scheinen wollen. Zum Beispiel ist es uns schon mehrmals passiert, dass uns das Gemüse, das wir in einem Quartierladen kaufen wollten, wieder von der Waage weggenommen wurde. Grund ist, dass die Verkäufer Preise für 250 Gramm, 500 Gramm oder 1 Kilogramm festgelegt haben. 700 Gramm kann man nicht kaufen und lieber nehmen sie einem wieder 200 Gramm von der Waage weg als noch 300 Gramm draufzulegen.

Ein anderes Beispiel ist der wohl schönste Ort im touristischen Sauraha: ein Stück Land direkt am Fluss, von wo aus man eine spektakuläre Sicht auf den Chitwan-Nationalpark hat und sich die schönsten Sonnenuntergänge ansehen kann. Seit mehreren Jahren steht dort eine Art Campingplatz mit einem heruntergekommenen Baumhaus, ein paar einfachen Hütten, Plastikstühlen und einer meist geschlossenen Bar. Bedient wird man hier nur auf Anfrage und die Stühle sind nicht wirklich bequem. Der Ort hätte riesiges Geschäftspotenzial, wirkt so aber nicht besonders einladend. Beispiele wie dieses machen mich betroffen und ich verstehe nach wie vor nicht, warum das grosse Potenzial, das Nepal eigentlich hat, so wenig genutzt wird. Warum nur trifft man in Nepal so wenig Unternehmergeist an?

Am Nachmittag fahren wir nach Patihani, wo wir seit Mitte März ein Hektar Land leasen und uns in einem Landhaus einmieten. Es ist ein traumhaft schöner Ort! Unser Land ist umgeben von Dschungel, Bananen- und Papayabäumen und malerisch bunten Häuschen. Hier scheint die Welt in Ordnung zu sein. Eine so friedliche Atmosphäre trifft man nur selten an. Ich erinnere mich daran, wie wir vor zwei Wochen hier waren und vor dem Haus frisch gepflückte Papaya assen. Pablo, unser Schweizer Projektleiter, war auch dabei und rauchte auf einem Sessel eine seiner mitgebrachten kubanischen Zigarren. Das Bild erinnerte irgendwie an eine Szene aus Narcos. Wir scherzten darüber, dass wir hier Hanf anbauen und das Haus zu unserem Laboratorio machen sollten. Doch trotz der leichten Ähnlichkeit von Pablo mit Wagner Moura, dem Hauptdarsteller der Serie, ist dieser Ort weit von der damaligen kolumbianischen Realität entfernt. Von Gewalt und Drogenkartellen ist hier keine Spur. Zwar scheinen auch in Nepal Korruption und Kartelle ein grosses Problem zu sein, doch äussern sich diese Probleme weniger in Gewalt als in Perspektivlosigkeit, Ungleichheit und in einer stark unterentwickelten Wirtschaft. Wie schon bei unserem letzten Besuch sind wir berauscht von der Schönheit dieses Orts. Die alte Frau, die im oberen Stock unseres Hauses wohnt, weiss bereits, dass wir Papaya lieben und pflückt uns im Garten eine. Wir beissen genüsslich in unsere Schnitze, beobachten die Papageien in den Bäumen und lauschen den Geräuschen aus dem Dschungel. Man könnte fast meinen, man sei hier in Nepal im Paradies.

Patihani. Hinten im Bild unser Landhaus (gelb).

Quellen und mehr zum Thema:

„Why Nations Fail“: Daron Acemoğlu und James A. Robinson. 2012. 

„Antibiotic resistance“: Artikel in The Himalayan Times vom 7. September 2017

„Road project in Nepal a blessing for transport entrepreneurs“: Artikel in China Daily vom 25. März 2019

„Why there is no foreign investment in Nepal“: Artikel in der Nepali Times vom 8. Februar 2019