«So, einmal Espresso, einmal Cappuccino. Entschuldigt bitte die lange Wartezeit, wir hatten gerade keinen Strom. Was möchtet ihr denn sonst noch über unser Familienunternehmen wissen?», fragt uns Bijaya erwartungsvoll. Bijaya Lamsal ist 28, der ältere der beiden Söhne der Familie Lamsal und ein ausgezeichneter Barista. Er hat uns soeben eine kurze Präsentation über den Betrieb seiner Familie gehalten. Die Lamsals haben vor wenigen Jahren ein Homestay mit Blick auf den Himalaya eröffnet. Auf einer Fläche von einem halben Hektar um das Gästehaus herum bauen sie Kaffee, Kardamom, Ingwer, Zimt, Litschis, Mangos, Bananen, Zitronen und Avocados an. Zudem produzieren ihren eigenen Honig. Ihr Kerngeschäft jedoch ist der Kaffee: 100% biologischer Anbau, Verarbeitung und Export nach Japan, Neuseeland und Taiwan. «Wie viel Kaffee verarbeitet ihr denn jedes Jahr?», frage ich Bijaya interessiert. «Ungefähr zehn Tonnen», antwortet er. «Wir rösten aber nicht nur unseren eigenen Kaffee. Wir sammeln die Kaffeekirschen von allen Kaffeebauern in der Umgebung ein und verarbeiten sie anschliessend. Den Profit, den wir damit erwirtschaften, teilen wir anschliessend mit allen Bauern.» Uns gefällt das Modell der Lamsals. Insbesondere auch, dass sie auf jegliche Art von chemischen Pestiziden verzichten. «Wir setzen ausschliesslich auf natürliche Düngemittel. Wurmkompostierung heisst das Zauberwort. Die Würmer in unserem Garten zersetzen unsere Küchenabfälle und wir verwerten die nährstoffreiche Komposterde anschliessend auf unserer Plantage. Wenn wir Probleme mit Schädlingen haben, verwenden wir keine chemischen Pestizide, sondern mischen Kuh- und Büffelurin mit lokalen Kräutern. Das ist sehr wirksam gegen Schädlinge», erklärt uns Bijaya. Ausserdem betreiben die Lamsals ihre Farm nach dem Permakulturansatz. So haben sie sich bewusst dafür entschieden, verschiedene sich ergänzende und gegenseitig unterstützende Pflanzen wachsen zu lassen.
«Warum exportiert ihr denn nicht nach Europa?», frage ich weiter. Bijaya scheint die Frage nicht zum ersten Mal zu hören. «Das liegt vor allem an den hohen Transportkosten. Ausserdem ist die Bio-Zertifizierung für Europa sehr teuer. Wir können uns das leider nicht leisten», meint er. «Wir hatten einmal eine Anfrage aus Hamburg. Ein Gast, der ein paar Tage in unserem Homestay verbracht hatte, stellte uns Kontakt zu einem deutschen Händler her. Wir bekamen einen Auftrag und sollten 400 kg geröstete Kaffeebohnen liefern. Das freute uns natürlich sehr und wir bereiteten alles entsprechend vor.» Bijaya hält inne. «Und dann?», will ich wissen. «Wir konnten nicht liefern», antwortet er. «Nach dem starken Erdbeben im Frühling 2015 folgte im Herbst eine Blockade an der Grenze zu Indien. Über Wochen konnte man kein Gas kaufen. I COULD NOT ROAST, MAN!». Bijaya steht die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Der Auftrag hätte den Lamsals die Türen nach Europa öffnen können. Seither haben sie nichts mehr von ihrem Kontakt in Deutschland gehört, obwohl Bijaya die Umstände mehrmals zu erklären versucht hat. Die Geschichte geht mir nahe. Schon mehrmals haben wir in Nepal nun gehört oder gar miterlebt, wie wegen äusserer Umstände (und nicht selten aufgrund politisch bedingter Missstände) Geschäfte eingingen, Aufträge nicht eingehalten werden konnten, Menschen ihre Arbeit verloren, Träume platzten.
Am Nachmittag machen wir einen Spaziergang zum See hinunter. Der Weg nach unten ist steil und wir bereuen bald, dass wir nur Flipflops nach Begnas mitgenommen haben. Schon nach kurzer Zeit saugen sich Blutegel an unseren Füssen fest. Unten angekommen bestaunen wir das atemberaubende Bergpanorama, das sich schillernd im See spiegelt. Der Machapuchare (nepalesisch für Fischschwanz) sticht mit seiner besonderen Form und seiner Höhe von 6997 m ü. M. heraus. Er gilt in Nepal als heiliger Berg und wurde 1964 vom nepalesischen König mit einem Besteigungsverbot belegt. Gerüchten zufolge soll es in den 1980er-Jahren eine illegale Erstbesteigung durch den Neuseeländer Bill Denz gegeben haben. Da dieser jedoch 1983 bei einer Bergbesteigung in Tibet tödlich verunglückte, ist das heute schwer nachzuprüfen. Als die ersten Gewitterwolken aufziehen, machen wir uns wieder auf den Rückweg zum Gästehaus. Am Abend machen wir es uns auf der Terrasse gemütlich. Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass wir nicht an unsere Arbeit denken, Zeit zum Lesen haben und die Ruhe der Natur geniessen können. Es tut gut. Zum Abendessen gibt es Dal Bhat, ein typisch nepalesisches Alltagsgericht mit Reis, Linsensuppe und verschiedenem Gemüse. Melchior lässt sich mehrmals nachschöpfen – wie ein richtiger Nepalese. Das Besondere an Dal Bhat ist nämlich, dass man sich so oft nachschöpfen lassen kann, bis man wirklich satt ist. Wir gehen zufrieden ins Bett.
Am nächsten Morgen werden wir sanft vom Zirpen der Grillen und Zwitschern der Vögel im Garten geweckt. Mir wird wieder einmal bewusst, wie schön es sein kann zur Ruhe zu kommen und wie wenig wir uns in den letzten Jahren dafür Zeit genommen haben. Vor dem Frühstück geniessen wir auf dem Dach die Morgensonne und versprechen uns, dass wir uns dieses Jahr, aber auch nach unserer Rückkehr in die Schweiz, öfter solche kurzen Auszeiten nehmen werden. «Woher habt ihr denn all das Wissen über biologische Landwirtschaft?», fragen wir Bijaya, als er uns das Frühstück serviert. Das hätten sie sich über die Jahre angeeignet, erklärt er uns. Sein Vater habe früher viele Schulungen von NGOs besucht, unter anderem auch von Helvetas. Dort habe er dazugelernt und anschliessend Neues ausprobiert, sein Wissen weitergegeben. Er holt sich einen Stuhl und setzt sich zu uns. «Wisst ihr, in Nepal ist Landflucht ein grosses Problem. Ich bin einer der wenigen Nepalesen in meinem Alter, der auf dem Land bleibt. Fast alle meine Freunde sind für ihre Arbeit oder ihr Studium entweder ins Ausland oder nach Kathmandu gezogen. Wenn ich mit unserem Agrotourismus-Modell auch nur ein Zeichen setzen und zum Vorbild für ein paar wenige gleichaltrige Nepalesinnen und Nepalesen werden kann, freut mich das sehr. Es wäre so wichtig, dass junge Leute – sowohl auf dem Land als auch in der Stadt – unternehmerisch aktiv werden», erklärt uns Bijaya. Wir nicken zustimmend und bewundern diesen jungen Mann, der trotz all der schwierigen Umstände in Nepal das Geschäft seiner Familie übernehmen möchte und betont, dass er an eine Zukunft in diesem Land glaubt. Lange bleibt Bijaya nicht bei uns sitzen. Er hat viel zu tun und muss sich um die anderen Gäste kümmern. Mit einem ausgezeichneten Bio-Kaffee starten wir in unseren letzten Tag in Begnas und planen die nächsten Monate unserer Asienreise. Es erwarten uns noch viele aufregende Abenteuer.
Interessante Fakten
Am 25. April 2015 wurde Nepal von einem starken Erdbeben erschüttert. Mit einer Magnitude von 7.5 MW (je nach Quelle auch 7.8 MW) sowie mehreren Nachbeben kostete das Erdbeben im Himalaya knapp 9’000 Menschen das Leben, rund 22’000 wurden verletzt. Zahlreiche Nepalesinnen und Nepalesen verloren beim Einsturz von rund 600’000 Häusern ihr Zuhause. Betroffen war insbesondere das Kathmandutal.
Von September 2015 an stockte aufgrund eines politischen Konflikts mit Indien für fast ein halbes Jahr die Wareneinfuhr aus dem Süden. Aufgrund der Blockade wurden Gas, Medikamente und Lebensmittel Mangelware, Hilfsgüter hingen fest, der Schwarzmarkt blühte. Für das bereits vom Erdbeben geschwächte Nepal hatte diese weitere humanitäre Krise gravierende Folgen.
Quellen und mehr zum Thema:
Offizielle Website der Familie Lamsal
Videos über das Begnas Coffee House und den Permakulturansatz der Familie Lamsal
„Im Schatten der Trümmer“: ein eindrücklicher Artikel im Spiegel vom 17.09.2016 über vier Schicksale junger Nepalesen, die vom Erdbeben und der Indien-Blockade berichten
„The India-Nepal Crisis“: Artikel im THE DIPLOMAT vom 27.11.2015